Deutsche Übersetzung von “Cold War Conversations: Transferring to Bundeswehr”

This is the German transcript of episode 287 of the Cold War Conversations podcast: “Transferring to Bundeswehr

Einleitung

Ian: Dies ist Cold War Conversations. Wenn Sie neu hier sind, sind Sie an der richtigen Stelle, um die Geschichte des Kalten Krieges aus erster Hand zu erfahren. Stellen Sie sicher, dass Sie uns in Ihrer Podcast-App folgen oder tragen Sie sich in unsere E-Mail-Liste unter ColdWarConversations.com ein.

Wir setzen Steffens Geschichte fort, in der er von seinem Dienst in drei Armeen erzählt. Wir beginnen die Episode im Herbst 1989, wo die Demonstrationen gegen die Regierung im nahe gelegenen Leipzig zunehmen und Steffens Einheit sich in höchster Alarmbereitschaft befindet und in den Kasernen eingeschlossen ist. Es ist klar, dass Ostdeutschland an der Schwelle zum Wandel steht.

Aber welche Auswirkungen wird das auf Steffen und seine Kameraden haben? Er beschreibt diese angespannten Tage, in denen es viele Gerüchte gab über militärisches Vorgehen gegen die Demonstranten, und wie er vom Sturz Honeckers erfuhr und die Öffnung der Grenze. Wir hören auch von seinen Erfahrungen bei der Umstellung der NVA nach den ersten freien Wahlen in Ostdeutschland, und die Dynamik der Wiedervereinigung nimmt zu.

Steffen nimmt einen Platz in der neuen vereinigten deutschen Armee an und wir hören von dem bedeutsamen Tag, an dem das Kommando an die Bundeswehr übergeben wird und wie er eine andere Denkweise lernen muss wie zum Beispiel die neue Lehre von der persönlichen Verantwortung.

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Mein Name ist Mark Franks und ich habe in der Royal Air Force gedient. von 1982 bis 2007. Was ich an Cold War Conversations faszinierend finde sind die Geschichten und Meinungen derer, die auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs lebten während dieses Zeitraums. Machen Sie weiter so mit Ihrer guten Arbeit und allem, was Sie bei Cold War Conversations tun.

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Ich freue mich, Steffen zu unserem Gespräch über den Kalten Krieg begrüßen zu dürfen.

Interview

Fortsetzung von Teil 1

Oktober 1989

Steffen: Schon an einem der ersten Tage im Oktober wurden wir in höchste Alarmbereitschaft versetzt. So konnte im Grunde keiner der Wehrpflichtigen mehr die Kaserne verlassen, und die Berufssoldaten konnten ihre Heimatstadt nicht mehr verlassen.

Es gab also überall Spannungen, und es war ganz klar, dass etwas im Gange war. Jeder, der nach Hause fuhr, um seine Familie zu besuchen, kam mit diesen Gerüchten zurück und sagte: Hast du das schon gehört und hast du jenes gehört?

Und dann kam der 7. Oktober, das war wahrscheinlich der kritischste Tag. Schon die vorherige Montagsdemonstration hatte sich zugespitzt. Ich denke, dass zu diesem Zeitpunkt in Leipzig etwa zehntausend Menschen demonstriert haben müssen. Es war also klar, dass etwas passieren würde - zumindest dachten wir das.

Wir hatten private Kontakte zu anderen Kasernen in unserer Nähe, in denen auch viel mehr Leute stationiert waren als bei uns. Am 7. Oktober erzählten sie uns, dass die Lastwagen in der Kaserne aufgereiht wurden, was an einem normalen Abend nie passierte. Die LKWs wurden vielleicht tagsüber mal für eine Ausbildung aus der Garage geholt, aber nicht abends. Die Lastwagen waren aufgereiht und es wurden sogar die Waffen verteilt, aber ohne Munition, was auch irgendwie seltsam war. Normalerweise, wenn man zur Übung fuhr, dann wurden erst die Waffen ausgehändigt und die Munition für alle wurde in einer großen Kiste auf den Lastwagen geladen. An diesem Abend aber wurde keine Munition ausgegeben.

Die Lastwagen standen also schon in Reih und Glied, es wurden Waffen verteilt, aber die Leute waren noch auf ihrer Stube in der Kaserne. Sonst passierte nichts.

Einsatzplanung

Steffen: In dieser Nacht des 7. Oktober hatte ich den 24-Stunden-Dienst, und ich bekam einen Anruf, dass in einem der Lagezentren ein Telefon kaputt sei. Ich sollte also hingehen und das Telefon austauschen oder versuchen, es zu reparieren.

Es war immer eine eigenartige Situation, zu einem dieser Generale gerufen zu werden - obwohl ich sagen muss (heutzutage ist es wahrscheinlich dasselbe): je höher der Rang, desto freundlicher und intelligenter kamen mir die Menschen vor. Ich hatte also, abgesehen von ein paar Bedenken, noch keine wirklich negativen Erfahrungen mit den Oberen gemacht. Aber nachdem ich in dieses Lagezentrum gerufen wurde, und angesichts der Situation, wie es in der DDR aussah: das war eine brenzlige Sache!

Als ich reinkam, war es tatsächlich wie in einem James-Bond-Film: Ich sah etwa 20 Generäle um einen Stadtplan von Leipzig herum sitzen. Sie bewegten Figuren wie Zinnsoldaten mit langen Stöcken von links nach rechts. Ich war nicht lange genug in dem Raum, um herauszufinden, was genau sie besprachen, aber es schien die Planung für einen Einsatz in der Stadt Leipzig zu sein.

Das, und die Lastwagen in den benachbarten Kasernen, ließ mich glaubem, dass es die Planung oder zumindest eine Vorbereitung für den Einsatz der Armee gegen die Bevölkerung auf der Straße war.

Ich war ein paar Minuten dort, konnte das Telefon reparieren und ging wieder raus. Das fühlte sich an wie ein Film, in dem die Welt kurz vor dem Untergang steht.

Ian: Gab es einen Zeitpunkt, an dem es so aussah, als ob Du zur Unterstützung bei der Niederschlagung dieser Demonstrationen oder Ähnlichem gerufen werden könntest?

Steffen: Ich erinnere mich, dass ich mich mit meinen Kameraden darüber unterhalten habe, zwei von ihnen waren Freunde. Wir kannten uns ziemlich gut. Einer war schon im Sommer 1989 weggegangen, und schon zu dieser Zeit hatten wir das diskutiert. Ich erinnere mich, dass wir zu dem Schluss gekommen sind, dass wir wahrscheinlich die letzten wären, die eingesetzt werden würden, wenn es soweit gekommen wäre. Wir hatte eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung der Kommunikationssysteme, und es gab viel mehr Menschen, die besser mit Waffen umgehen oder Autos fahren konnten als wir. Wir waren nicht so leicht ersetzbar. Natürlich ist jeder ersetzbar, aber wenn man eine Auswahl hat (ich glaube, die NVA hatte etwas mehr als 100.000 Menschen unter Waffen), so dachten wir uns, dann wäre das Risiko, dass wir persönlich involviert würden, wahrscheinlich eher gering.

Das hatte mich auch schon im Frühjahr 1988 beschäftigt, bevor ich unterschrieben habe. Ich hatte überlegt, was es bedeutet, wenn ich an die Grenze müsste. Was würde ich tun? Aber 1989 in Leipzig, nein, da hatte ich keine Angst, dass ich schießen müsste.

Schießbefehl

Ian: Vielleicht hattest Du dieses Gespräch nicht geführt, aber hast Du mit Deinen Freunden darüber gesprochen, was Sie getan hätten, wenn man Sie aufgefordert hätte, auf DDR-Bürger zu schießen?

Steffen: Ja, das wurde nicht erst zu diesem Zeitpunkt diskutiert, sondern schon lange vorher, einfach als eine Art allgemeine Diskussion. Man versuchte immer, einen sehr privaten Rahmen für diese Art von Gesprächen zu haben, wegen des Risikos, dass die Stasi oder jemand von der Partei das mitbekommen würde.

Mein naiver Gedanke war, dass ich Ärger bekäme, wenn ich in so einer Situtation gar nicht schieße. Also würde ich wahrscheinlich schießen und versuchen, die Person, auf die ich schießen sollte, nicht zu treffen. Das war, glaube ich, eine gängige Methode, um zumindest im Voraus zu versuchen, mit einer solchen Situation fertig zu werden. Ich weiß aus Büchern und von Erzählungen, dass man trotzdem in Schwierigkeiten geriet, besonders wenn man an der Grenze war. Man wurde beschuldigt, absichtlich nicht getroffen zu haben.

Zumindest bis dahin waren das mein abstrakter Weg, damit umzugehen: wenn ich wirklich gezwungen würde, würde ich wahrscheinlich daneben zielen. Das war meine Art des Umgangs damit.

Wende

Ian: Wir gehen jetzt in den November. Wann hast Du die Nachricht von Honeckers Abdanken gehört, erinnerst Du Dich?

Steffen: Nicht an das genaue Datum, aber ich erinnere mich an die Situation sehr gut. Es gab diesen Versuch der Eindämmung durch die DDR-Führung; das, was sie Wende nannten. Da gab es diesen berühmten Spruch des neuen Staatschefs Egon Krenz “Wir werden die Wende einleiten, wir werden eine Änderung vornehmen”, und das war zu diesem Zeitpunkt schon ein lächerlicher Versuch, die Kontrolle zu behalten.

Diese Zeit fühlt sich an, als wäre ein ganzes Jahr voller Ereignisse vergangen,aber in Wirklichkeit waren es vielleicht vier oder acht Wochen gewesen.

Ich glaube, ich sah die Nachricht vom Mauerfall im Jugendfernsehprogramm, das seit Sommer 1988 immer wieder ausgestrahlt wurde. Es hieß “1199”, nach der Postleitzahl des Studios. Es fühlte sich für uns junge Leute wie MTV an, mit viel Musik und frischem Aussehen und so. Diese Leute haben ihre Rolle im Oktober und November ‘89 tatsächlich geändert und mehr und mehr Dinge in Frage gestellt, sie waren dann z.B. auch in Wandlitz, wo Honecker und die anderen Staatsoberen bis dahin gelebt hatten.

In einer dieser Sendungen, ich glaube, es war an einem Samstag, habe ich gesehen, dass die Mauer gefallen war. Es war nicht am selben Tag, sondern erst zwei oder drei Tage später. In der Nacht, in der das passierte, rief uns ein Freund von der Militärleitung an. Einer von uns kannte den, ich glaube er rief aus Berlin über die offene Leitung an und sagte “Habt Ihr schon gehört? Die Mauer ist gefallen!”. Natürlich hatte er nicht alle Details, aber wir haben dann später Bilder im Fernsehen gesehen; es muss also “1199” gewesen sein.

Mauerfall

Ian: Hast Du gleich am Tag nach der Maueröffnung davon erfahren?

Steffen: Es war nicht sehr lange danach, vielleicht in derselben Nacht, oder am Tag danach, aber nicht sehr lange danach.

Ian: Wie war die Atmosphäre in jenen Tagen, nachdem die Mauer geöffnet wurde?

Steffen: Es gab mindestens zwei, vielleicht sogar noch mehr Arten, wie die Menschen reagiert haben:

Viele Menschen gingen einfach los und sagten, wir sind jetzt frei und die Welt gehört uns. Ich war eher zurückhaltend, weil ich mir nicht sicher war, was das alles wirklich bedeutet. Weißt Du, ich war damals 19 und wusste nicht viel über Politik. Das Wichtigste, was mir vom November oder sogar ein wenig davor im Gedächtnis geblieben ist: Es gab diese Idee einer besseren DDR, die ich sehr interessant fand.

Ich gehörte nicht zu denen, die sofort dachten: “Okay, jetzt kann ich nach West-Berlin oder nach Westdeutschland gehen”, das hatte ich nicht im Sinn. Ich war da eher zurückhaltend.

Und dann gab es natürlich noch die dritte Kategorie - die Menschen, die Angst hatten oder verunsichert waren, etwa wie viele der SED-Mitglieder und des Personals, das schon lange für den Staat tätig war. Die haben einfach nicht verstanden, was hier vor sich geht, sie waren noch verwirrter als ich.

Ich glaube, zumindest zu diesem Zeitpunkt gab es nicht viele Leute, die sich völlig darüber im Klaren waren, was passieren wird. Wer hätte das schon sagen können? Es gab diese Versuche der Eindämmung der Regierung, vielleicht doch noch die Kontrolle zu erlangen - man musste einen Reisepass beantragen und abstempeln lassen, um nach Westdeutschland zu reisen. Aber das hörte sehr schnell auf, weil es lächerlich war.

Innerhalb der NVA gab es, glaube ich, die gleichen drei Kategorien von Reaktionen: da waren die Leute, die so schnell wie möglich weg wollten, dann gab es die Zurückhaltenden, so wie ich, die erstmal verstehen wollten, was vor sich geht. Und die Verunsicherten, die einfach nicht verstehen konnten, wie das möglich war und wie es weitergehen soll.

Erster Besuch im Westen

Ian: Wann hast Du zum ersten Mal den Westen betreten?

Steffen: Ich glaube, das muss im Winter gewesen sein, vielleicht noch 1989. Viele Leute fuhren mit dem Zug nach Bayern, nach Bayreuth und Nürnberg. Aber es gab dann einen Unfall in Leipzig, am Bahnhof, weil sich zu viele Leute am Bahnsteig drängten und auf den Zug warteten.

Das war der Moment, in dem mein Vater mir angeboten hat: “Wenn du fahren willst, weil du ja in Leipzig bist, dann nimmst Du besser mein Auto und fährst damit nach Bayreuth und holst dir dein Begrüßungsgeld.” Er befürchtete, dass ich mit einer Zugfahrt in eine ähnlich gefährliche Situation geraten könnte. Ich glaube, das war im November oder Dezember 1989.

Ian: Und was war Dein erster Eindruck vom Westen?

Steffen: Es roch wie in einem dieser Intershop-Läden!

Ian: …und Levis Jeans und Whiskey…

Steffen: …und Schokolade und Seife. Unsere Familie hatte ab und zu Pakete aus Westdeutschland bekamen, die hatten den gleichen Geruch. Natürlich freuten sich alle auf die Öffnung des Paktes! Die Intershop-Läden hatten den gleichen Geruch, und als wir in Bayreuth ankamen, roch es dort ähnlich.

Es war unglaublich, wie effizient die Westdeutschen waren, wie sie diese Unmengen von Menschen, die ihre 100 D-Mark Begrüßungsgeld abholten, bewältigten.

Es gab nirgendwo Anzeichen von Stress; sie haben sich um alles gekümmert. Es gab Busse, die einen vom Bahnhof zu dem Ort brachten, wo man das Geld abholen konnte, und es gab überall Läden, die dir Sachen verkauften, wo es Schokolade gab und all das. Es gab überhaupt kein Chaos; alles wirkte sehr professionell. Typisch deutsch!

Die Demonstrationen in Leipzig ändern ihren Charakter

Ian: Als 1989 zu Ende ging, war die DDR immer noch da, die Regierungsstruktur auch. Aber in den ersten Monaten des Jahres 1990 beginnt sie zu verschwinden, wäre das eine korrekte Einschätzung?

Steffen: Ja, ich denke, das gilt sowohl für die NVA als auch für den Rest der DDR. Zu diesem Zeitpunkt war ich immer noch voll in meine Tätigkeit eingebunden, als Wehrpflichtiger mit allen Verpflichtungen.

Uns wurde sehr schnell erlaubt, jede Nacht nach Hause zu gehen und außerhalb der Kaserne zu schlafen, solange wir unseren Job gemacht haben. Man konnte aber sehr genau sehen, dass die gleiche Art von Unsicherheit und der gleiche Umgang mit der Situation in der NVA wie im Rest der DDR auftrat. Manche versuchten, so schnell wie möglich wegzukommen, andere orientierten sich, wieder andere verstanden nicht, was vor sich ging.

In dieser Zeit begann ich mich mehr für Politik zu interessieren - was vor sich geht in Bezug auf die DDR und die Außenwelt. Diese Idee einer besseren Gesellschaft, etwas auszuprobieren, was in der DDR noch nie gemacht wurde, hatte mich fasziniert. Etwas zu versuchen, was es noch nicht gegeben hatte! Ich fand das interessant, ich fing an, mich damit zu beschäftigen, darüber zu lesen.

Ende ‘89 hatte ich auch angefangen, einige der Montagsdemonstrationen zu besuchen. Vielleicht war es schon Ende Oktober? Sicher vor dem Fall der Mauer, aber es war nicht mehr verboten, so dass ich Gefahr liefe, ins Gefängnis zu kommen. Dafür war ich nicht verrückt genug. Und so besuchte ich diese Montagsdemonstrationen ein paar Mal ab Oktober. Die letzte, an der ich teilgenommen habe, war dann Anfang Februar.

Man konnte jede Woche eine Veränderung feststellen. Am Anfang war es eher subtil, aber dann ging alles schneller und schneller und es wurden größere Schritte gemacht. Es gab viel zu sehen, z.B. die Transparente, die die Leute hochhielten, mit all diesen schlauen und manchmal sehr nachdenklichen Texten. Man merkte die Veränderung auch daran, was die Leute riefen, und man konnte sehen, wie sich das jede Woche leicht veränderte. Am Anfang ging es darum, dass wir frei sein wollten, freie Meinungsäußerung, und Reisefreiheit. Die Möglichkeit zu Reisen hat anfangs eine sehr wichtige Rolle gespielt.

Dann hörte man andere Themen, es muss vielleicht Ende November oder so gewesen sein, spätestens im Dezember: die Leute fingen an, die deutsche Wiedervereinigung zu fordern! Als regelmäßiger Besucher konnte man immer mehr Deutschland-Fahnen sehen. Am Anfang waren es noch DDR-Fahnen gewesen, so das Emblem herausgeschnitten war, aber mehr und mehr sah man die reguläre westdeutsche Flagge. Ich kann mich nicht ganz genau erinnern, ob dies ‘89 schon ein großes Thema war, aber auf jeden Fall 1990, als es dann um die D-Mark und die Wiedervereinigung ging.

Ich persönlich habe im Februar aufgehört, zu den Demos zu gehen, als Helmut Kohl in Leipzig zu Besuch war und dort auf einer dieser riesigen Demonstrationen sprach; etwa 300.000 Menschen. Und am CDU-LKW wurden ernsthaft Bananen an die Leute verteilt! Das war das Ende für mich, ich dachte: “okay, jetzt wird es lächerlich, was sie hier machen”. Es ging nicht mehr um Freiheit, es ging nicht mehr um Ideen, es ging nur noch um Geld und schnelle Wiedervereinigung.

Dritter Weg

Ian: Es gab Gruppen wie das Neue Forum, die einen Mittelweg suchten zwischen dem Kommunismus der SED und den Kapitalismus des Westens. Aber schließlich wurden sie erdrückt von der Kraft, die Parteien wie die CDU und die SPD aufbrachten. Diese überrumpelten alle mit Versprechungen von viel Geld und einer goldenen Zukunft. Hattest Du das Gefühl, dass man Euch besetzt hatte? Vielleicht ist das das falsche Wort - aber als die DDR in der Bundesrepublik aufging, hattest Du da noch das Gefühl einer ostdeutschen Identität? Hast Du Dich als Deutscher betrachtet?

Steffen: Oh nein, es hat lange gedauert, bis ich mich als Deutscher gesehen habe, vielleicht sogar bis 1991, dass ich wirklich das Gefühl hatte, dass das jetzt unser Deutschland ist. Das hat lange gedauert, aber Anfang 1990 ging es zumindest für mich nur um die DDR und das, was man den dritten Weg nannte. Ich gehörte nicht zu dem von Dir erwähnten Neuen Forum, aber die Idee hatte mich fasziniert, und ich dachte, dass dies ein ausgezeichneter Weg ist. Ich meine, als 19-Jähriger macht man ja gerne verrückte Experimente, also war das etwas, das ich interessant fand. Es ging um die Chance, ein Experiment zu machen, das vielleicht sogar erfolgreich sein könnte.

Aber es wurde schnell klar, mit der sich jeden Montag mehr abzeichnenden Einstellung der Menschen, dass dieser dritte Weg im Grunde genommen vom Tisch war, weil die Leute mit den Füßen abgestimmt haben. Die zogen eindeutig die kurzfristigen Erfolge vor gegenüber dem, was langfristig möglich gewesen wäre.

Wenig später stellte sich heraus, dass es eine gute Idee gewesen war, die Fachleute die schnelle Wiedervereinigung in die Hand nehmen zu lassen - 1991, als Jelzin geputscht hat, in Moskau. Das waren meine letzten Stunden voller Angst in meiner Armeezeit, aber dazu kommen wir bestimmt später noch.

Reformierte NVA

Ian: Als die Wiedervereinigung als eine Möglichkeit angekündigt wurde, ich glaube, das war im März 1990…

Steffen: …ja, aus der NVA-Perspektive betrachtet, war das erste Interessante, was passierte, dass wir nocheinmal vereidigt wurden. Als ich 1988 der Armee beigetreten war, musste ich einen Eid schwören, dass ich bis an mein Lebensende für den Kommunismus kämpfen würde und so; ich glaube, die SED war ein wichtiger Teil des Eids.

Im März 1990 wurden wir erneut vereidigt, diesmal auf die Verfassung der DDR. Die gab es schon, seit es die DDR gab, aber im Alltag spielte sie keine große Rolle. Doch jetzt gab es noch einmal diese Zeremonie, und wir bekamen neue Symbole auf unsere Uniformen. Sie hatten nicht mehr diesen Hammer und, wie heißt das auf Englisch…

Ian: …Hammer, Zirkel und Ährenkranz

Steffen: Genau, ja, diese Symbole der DDR waren weg, wir hatten nur noch die Farben Schwarz-Rot-Gold, und das war alles. Wir wurden auf die Verfassung der DDR vereidigt, und deshalb sage ich, das ist die zweite Armee, in der ich gedient habe. Das war wieder so ein Zeitpunkt, an dem sich die Dinge änderten, aber es war noch nicht klar, wohin es geht, und man begann gerade erst zu erkennen, dass es vielleicht eine Wiedervereinigung geben könnte.

Als wir uns für dieses Interview verabredet haben, habe ich einen Freund gefragt, mit dem ich gemeinsam diese Zeit erlebt habe. Er erinnerte sich viel besser als ich und erzählte, dass im Einigungsvertrag zwischen der DDR und der Bundesrepublik geregelt war, wie die Dinge für die NVA weitergehen würden. Es dauerte also eine Weile, bis man sich einigermaßen im Klaren darüber war, wer wie weitermachen würde und ob es überhaupt noch eine NVA geben würde, oder würde es nur die Bundeswehr geben oder würde es sogar eine Wiedervereinigung geben? Es wurde viel diskutiert und ich kann nicht genau sagen, wann was klar war, aber vielleicht im Sommer 1990, aber vermutlich nicht davor.

Ian: Und was war mit Deiner Rolle zu diesem Zeitpunkt? Du hattest Dich doch eigentlich bis 1991 verpflichtet, nicht wahr?

Steffen: Ja, mein persönlicher Plan stammte ja noch vom Anfang, als alles noch DDR war. Mir waren ja, wie erwähnt, diese drei Versprechungen gemacht worden, und dazu gehörte auch, dass ich mich bereits 1988 für mein Studium einschreiben konnte. Ich hatte da bereits die Anmeldung für den Studienbeginn 1991 an der Universität in Chemnitz, meiner Heimatstadt.

Für mich war also die Frage, ob ich jetzt aussteigen sollte, was zu diesem Zeitpunkt möglich war. Jeder, der mehr als 18 Monate in irgendeiner Funktion bei der Armee gedient hatte, war im Grunde frei. Aber aus vielen persönlichen Gründen fand ich es interessant, weiterzumachen. Ehrlich gesagt hat mir die Arbeit Spaß gemacht. Ich hatte Freunde, und später sogar eine eigene Wohnung in Leipzig. Ich lebte wie ein normaler Mensch und es war eher wie ein Bürojob, bei dem man morgens in die Kaserne geht, seine Arbeit macht und um fünf oder sechs Uhr nach Hause geht. Der Job hat mir einfach Spaß gemacht, ich hatte meine Freunde, also gab es für mich keinen wirklichen Druck, jetzt schon aufhören zu müssen.

Beruflich war es eigentlich immer noch dasselbe. Wir hatten immer noch das gleiche Telefonsystem und selbst als man die ersten Bundeswehr-LKWs oder Autos sah, als geplant wurde, wie man alles an die Bundeswehr übergeben sollte, da dachte ich immer noch: “das könnte bis zum Ende meiner drei Jahre interessant bleiben.”

NVA und Bundeswehr planen den Übergang

Ian: Das muss wirklich seltsam gewesen sein, Bundeswehrfahrzeuge in und um Ihre Kaserne herum zu sehen und dieses rote Barett der Bundeswehrsoldaten. Kannst Du Dich daran erinnern, als Du diese Truppen zum ersten Mal gesehen hast und dachtest, meine Güte, die Welt hat sich auf den Kopf gestellt?

Steffen: Ich glaube nicht, dass das für mich so eine große Sache war, weil ich Westdeutschland nie als den Feind gesehen habe. Für andere Leute war es unerträglich - wir hatten nie NATO-Soldaten oder auch nur Bilder von ihnen gesehen, zumindest ich nicht, vielleicht auch, weil ich nicht viel mit Waffen zu tun hatte.

Für mich ging es nicht gegen den Feind, sondern eher darum, dass wir weiter die Telefonleitungen betreiben. Ja, es war seltsam, Bundeswehrfahrzeuge in unserer Kaserne zu sehen, aber es war nicht weltbewegend. Zu dieser Zeit änderten sich ohnehin so viele Dinge - Anfang Juli 1990 bekamen wir die D-Mark! Ich fand es viel seltsamer, die Westmark in unserer Kaserne zu sehen, als die Bundeswehrfahrzeuge.

Ian: Was haben Deine Vorgesetzten über Deine Position nach der Wiedervereinigung gesagt?

Steffen: Das war auch etwas, das ich vor diesem Interview mit meinem Freund besprochen hatte, weil ich mich nicht mehr so gut daran erinnern konnte. Er wusste noch: Im Einigungsvertrag wurde festgelegt, dass man in die Bundeswehr übernommen werden konnte, wenn man vier Jahre oder weniger in der NVA gedient hatte. Das war die Regel, und ich glaube, dass nur sehr wenigen Längerdienenden angeboten wurde, bei der Bundeswehr zu bleiben. Einige von ihnen nahmen das an, aber sicherlich nicht die Mehrheit. Alle ab dem Major aufwärts wurden, glaube, ich, überhaupt nicht übernommen. Vielleicht gab es Ausnahmen, aber es war nicht die Regel. Das hat sich erst, glaube ich, im Sommer 1990 oder so abgezeichnet, bis klar war, dass ich bleiben konnte.

Viele Details gab es nicht. Wir haben keine Informationen über Sold oder so bekommen. Was aber ziemlich schnell klar war: unsere Ränge würden um eine Stufe gekürzt werden. Die meisten Leute bekamen einen niedrigeren Rang, weil die Verantwortung eher dazu passte, wie die Bundeswehr organisiert war. Für mich war das aber nicht so wichtig, meine Entscheidung hat das nicht beeinflusst.

Viel ungewöhnlicher waren die neue Uniformen, die wir schon vor dem 3. Oktober, als die Bundeswehr übernahm, bekamen. Wir bekamen Barett und auch neue Stiefel, die viel besser waren als die, die wir vorher hatten. Jeder bekam ein Taschenmesser, das war auch sehr interessant, und es war auch ein Signal. In der NVA hatte man immer den Eindruck, dass einem niemand vertraut, zumindest nicht von den Offizieren. Ich hatte ja schon von der Munition erzählt, die einem (vermutlich aus Sicherheitsgründen) erst im letzten Moment ausgehändigt wurde; selbst wenn es nur eine Übung war. Aber vielleicht auch, weil dir niemand richtig vertraut hat.

Und jetzt kommt die Bundeswehr und das allererste, was sie dir geben, ist ein Messer - vielleicht nicht das größte, aber zumindest mehr, als du zu DDR-Zeiten hattest.

Das Einzige, was wir von der NVA weiter benutzten, war der Stahlhelm. Der war noch von der NVA, zumindest für das eine Jahr, das ich nach der Wiedervereinigung noch diente. Ach, und auch die Kalaschnikow-Maschinenpistole. Die war zwar weggeschlossen, aber jeder hatte eine ihm zugeordnete Waffe, und es blieb die, die man hätte benutzen müssen, wenn es notwendig gewesen wäre. Die Aufregung um die neue Uniform war größer. Es gab auch da eher praktische Fragen, z. B. welche Knoten man zum Binden der Schuhe verwendet und so weiter.

Und dann erinnere ich mich, wie der neue Kommandeur unserer Einheit am 2. Oktober, in der Nacht vor der Wiedervereinigung also, eintraf. Sein Fahrer schlief in unserer Unterkunft, und so unterhielten wir uns mit ihm. Er hat uns sehr geholfen. Ich glaube, in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober haben wir in allerletzter Minute eine Menge gelernt - wie man die Baskenmütze trägt und all diese kleinen Details.

Ich kann mich nicht erinnern, dass ich am 3. Oktober besonders aufgeregt war - es waren eher die praktischen Dinge, die mich beschäftigten. Am Tag davor trug man noch die DDR-Uniform und dann trägt man auf einmal das rote Barett und die Bundeswehruniform.

Ende der NVA

Ian: Gab es an diesem letzten Tag eine Zeremonie zum Einholen der Flagge?

Steffen: Ja, die Truppenfahne wurde eingerollt und es gab einen letzten Appell. Das war nun das Ende der DDR - ich habe das eher als eine komische oder vielleicht sogar lustige Situation in Erinnerung. Das war zumindest für mich keine große Zeremonie, weil alle wussten, was kommen würde.

Seltsamer muss es für meinen Freund gewesen sein in dieser Nacht; er hatte Wache, am Kasernentor. Als seinen 24-Stunden-Dienst begann, am Abend des 2. Oktober, trug er natürlich seine NVA-Uniform. Die Bundeswehr-Uniform hatte er in einem Rucksack dabei, und um Mitternacht hat er sich dann umgezogen und damit war er ein Bundeswehrsoldat. Das muss viel seltsamer gewesen sein, als es für mich war. Das war schon eine einzigartige Situation.

Ian: Unglaublich! Bei der Flaggenzeremonie, als sie am Vortag eingeholt wurde, war das das letzte Mal, dass Du die DDR-Hymne gesungen hast? Wurde die DDR-Hymne zu diesem Zeitpunkt überhaupt gesungen?

Steffen: Oh, daran kann ich mich nicht erinnern, wahrscheinlich nicht, weil sich solche Dinge bereits geändert haben, im März, als meine 2. Armeezeit begann. Da wurden all diese Dinge bereits stark abgeschwächt. Was früher eine sehr wichtige Sache war - man musste die Flagge unter allen Umständen schützen und so - war nicht mehr das Thema. Das wurde nicht groß diskutiert. Also, ich glaube, wir haben nicht gesungen. Vielleicht gab es noch eine Ansprache, aber es war kein großer Moment.

Ian: Ich habe Filme auf YouTube gesehen, vielleicht waren das “härtere” Einheiten der NVA. Als sie die letzte Parade mit der Fahne abhielten, war das eine ziemlich große Sache und ich glaube, dabei wurde die Hymne gesungen, aber ich muss mir das noch einmal ansehen. Ich meine, gab es Leute, die an diesem Tag verärgert waren?

Steffen: Das glaube ich nicht, nein. Zu dem Zeitpunkt waren die schon alle weg. Am 2. Oktober waren nur noch Leute da, die bei der Bundeswehr bleiben würden, alle anderen waren schon weg. Einige Leute sind in Rente gegangen, aber natürlich gab es auch einige sehr traurige Geschichten. Einer der Offiziere, die wir hatten, war eine schneidige Person und sehr korrekt, er hatte schon eine lange Zeit gedient, vielleicht 30 Jahre. Und der wurde dann Wachmann in einem Einkaufszentrum. Ein Jahr später hat ihn mal jemand dort getroffen.

Für solche Leute war es natürlich viel schwieriger als für mich, der ich 19 war und am Anfang von etwas Aufregendem, etwas Neuem stand. Für die Offiziere hatte sich ihre ganze Welt verändert und sie bekamen nicht mehr den Respekt, den sie früher in der Gesellschaft hatten.

Und dann war da auch der Glaube an den Sozialismus. Ich hatte in der DDR-Zeit ein paar Leute kennengelernt, eigentlich erstaunlich wenige, die wirklich an den Sozialismus glaubten. Man sollte meinen, dass zumindest die Mitglieder der Partei davon überzeugt waren, aber alles in allem waren es nicht einmal 10 Leute, die ich getroffen habe, die wirklich an die Ideen des Sozialismus glaubten. Diese Leute waren wirklich persönlich enttäuscht, dass der Sozialismus jetzt zu Ende ist. Aber die meisten Menschen, die ich kannte, waren entweder entspannt oder sogar begeistert von der Zukunft, die auf sie zukommt.

Das mag vielleicht daran gelegen haben, dass unser Bataillon hauptsächlich mit sehr jungen Leuten besetzt war. Alles technisch orientierte Leute, die für drei Jahre dort waren. Höchstens 20% waren Offiziere, und wir hatten sowieso keinen engen Kontakt zu denen.

Alte Räume, neue Töne

Ian: Als Du dann Teil der Bundeswehr wurdest, hattest Du auch Ausbildung in ihrem Ethos und dem Prinzip der “inneren Führung”? Wurde diese Politik der persönlichen Verantwortung trainiert?

Steffen: Ja, in der Tat, das begann schon ziemlich kurz nach der Wiedervereinigung. Wir hatten einen neuen Kommandeur und einen neuen Stellvertreter ab dem 3. Oktober. Am 2. Oktober hatte die Abschlusszeremonie stattgefunden, und am 3. Oktober kam der neue Chef: “Hallo, meine Name ist Soundso, und hier bin ich, lass uns mal reden”. Er erschien mir weit menschlicher als die DDR-Vorgesetzten, zumindest in den Rängen, mit denen ich zu tun hatte. Er hatte einen bayerischen Akzent, das war am Anfang auch seltsam.

Es hat sich dann sehr schnell herausgestellt, dass die Menschenwürde bei der Bundeswehr hoch gehalten wird. Klar, jeder macht unterschiedliche Erfahrungen, und es gibt wahrscheinlich auch Leute, die schlechte Erfahrungen mit der Bundeswehr gemacht haben, aber für mich war das gut.

Zu DDR-Zeiten hatten wir gescherzt gesagt: “wir bekommen Rotlicht-Bestrahlung”, diese Indoktrination der kommunistischen Ideen, die Welt retten und so. Aber niemand hat daran geglaubt, zumindest ich nicht. Es war also nur langweiliges Zeug, das man sich anhören musste.

Nur ein Jahr später saßen wir dann im selben Raum und hörten wieder jemanden sagen: “Lasst uns über die Verfassung sprechen und darüber, was Ihre Pflichten als Soldat sind nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland”. Das war am Anfang seltsam, in einer ähnlichen Umgebung zu sizen und über ähnliche Dinge, nur mit anderem Vorzeichen, zu sprechen. Aber es wurde ziemlich schnell klar, dass das, was hier diskutiert wird, viel mehr Realität ist und es war auch viel praktischer. Wir haben ziemlich bald darüber diskutiert, in welchen Situationen man Befehle nicht befolgen darf. In der DDR wäre es niemals möglich gewesen, dieses Thema auch nur anzusprechen. Es gab den Befehl, und der war unumstößlich. Da gab es nichts nachzudenken oder gar zu diskutieren.

Vielleicht war das eine strategische Mission, mit der die Bundeswehr versuchte, dem übernommenen NVA-Personal die Grundsätze der bundesdeutschen Verfassung, was es bedeutet, Soldat der Bundeswehr zu sein, innere Führung und alle diese Grundsätze näher zu bringen. Rückblickend finde ich das jedenfalls eine sehr gute Idee. Der Kontrast zur DDR war zwar anfangs noch etwas merkwürdig, aber das war schon hilfreich, die Unterschiede zu verstehen. Das hat auch bei mir dazu geführt, dass ein Großteil des Chaos und der Unsicherheit aufgelöst wurde.

Es gab viel mehr Integrität zwischen der Verfassung und den Gesetzen auf der einen und der Realität, dem Alltag, auf der anderen Seite. Das war eine ziemlich hilfreiche Erfahrung für mich.

Ian: Als wir uns vor der Aufnahme unterhalten haben, hattest Du erwähnt, dass es auch Einzelgespräche mit Deinem Kommandeur gab, was in der NVA undenkbar gewesen wäre.

Steffen: Als gleichberechtiger Mensch behandelt zu werden und mit den Vorgesetzten reden zu können, hat mir das Gefühl gegeben, ihn wirklich alles fragen zu können. Das Vertrauen in den Kommandeur der Bundeswehr war dadurch stärker als es vorher bei den NVA-Offizieren gewesen war. Vielleicht auch wegen der fast drei Jahre, die ich bis dahin schon gedient hatte. Das waren prägende Jahre für mich, im Alter zwischen 18 und 21; da gibt es eine Menge an Weiterentwicklung, die man persönlich macht. Sicher hat auch der Charakter der Menschen, mit denen ich zu tun hatte, eine Rolle gespielt. Das war schon ein Kontrast zu vorher.

Viel alte Technik bleibt vorerst

Ian: Wurdest Du zu diesem Zeitpunkt an völlig neuen Geräten ausgebildet, was war Deine Rolle?

Steffen: Ich glaube nicht, dass sich meine Art von Tätigkeit in diesen drei Jahren so sehr verändert hat. Die Bundeswehr hat den größten Teil der Kommunikationsverbindungen übernommen, zumindest zu diesem Zeitpunkt.

Später besuchte ich diesen Ort erneut, ich hatte dort noch einige Freunde, und sie zeigten mir die neue Telefonanlage. Was früher drei Räume voller Ausrüstung waren, stand jetzt in einer Ecke eines Büros, das war schon interessant. Das bedeutete natürlich auch viel weniger Wartung usw.

Aber ich glaube, zumindest bis zum Ende meiner Dienstzeit im August 91 blieb der Großteil dieser Technologie weitgehend gleich. Die Leitungen nach Moskau wurden natürlich kaum noch genutzt; es gab neue, die nach Bonn und Berlin gingen. Aber der Rest war weitgehend gleich geblieben.

Ian: Die sowjetische Armee war zu diesem Zeitpunkt noch in Ostdeutschland, aber sie fingen an, einzupacken und zu gehen.

Steffen: Das stimmt, aber um ehrlich zu sein, hatten wir nicht viel mit ihnen zu tun. Ich meine, wir wussten natürlich, wo die Leitungen hingingen. Da ich mich im offenen Teil des Bataillons befand, haben wir viel mit der Deutschen Post kommuniziert. Es gab also offene Kabelverbindungen, und die hatten immer die richtigen Namen der Städte, in die die Leitungen gingen. In der normalen NVA-Kommunikation wurden die Klarnamen nicht verwendet. Es gab immer diese Tarnnamen. Man sollte nicht sagen “diese Leitung geht nach Delitzsch und diese hier nach Dresden.” Man mußte den Tarnnamen benutzen.

Kommunikation mit den Russen gab es war wahrscheinlich eher im verschlüsselten Bereich. Davon habe ich nicht viel mitbekommen. Das wurde natürlich alles Anfang 1990 abgebaut. Die Ausrüstung war, denke ich, hauptsächlich russisch, und das haben die Russen schon sehr früh mitgenommen, damit es nicht in die Hände der NATO gelangt.

Nach der Wiedervereinigung

Ian: Was passiert mit deinen Eltern zu diesem Zeitpunkt? Haben sie ihren Arbeitsplatz behalten, oder werden sie entlassen?

Steffen: Meine Eltern ließen sich also kurz vor der Wende scheiden. Es gab also eine Menge Veränderungen für sie, für beide. Das vermischt sich also viel, was in dieser Zeit passiert.

Mein Vater wechselte schon Anfang 1990 den Job. In dem Statistik-Institut, in dem er arbeitete, suchte man nach neuen Führungspersönlichkeiten, die nicht vorbelastet waren und nicht in der SED gewesen waren, selbstverständlich auch ohne Stasi-Verstrickungen. Er wurde dann innerhalb dieses Instituts ziemlich schnell befördert, er hatte da keine Schwierigkeiten. Dann ging es für ihn schnell weiter, ich glaube 1991 wechselte er in das Bildungsministerium in Dresden.

Meine Mutter hat später in einer der Tochterfirmen der Treuhand gearbeitet. Alle in der DDR verstaatlichten Gebäude und Grundstücke sollten an die früheren Eigentümer zurückgegeben werden, aber diese Anträge auf Rückgabe konnten ja nicht von einem Tag auf den anderen erledigt werden. Es musste eine gewisse Kontinuität geben, aber die Miete, die eingenommen wurde, und jedes Geld, das geflossen ist, sollte aufbewahrt und abgerechnet werden, damit man es dem Vorbesitzer zurückgeben kann. Sie hat diese Berechnungen gemacht.

Meine Eltern haben sich ganz gut zurechtgefunden, ohne allzuviel Aufregung.

Ian: Und wie sieht es mit Deiner Karriere aus? Du warst bei der NVA, Du warst in dieser Übergangsarmee und danach bei der Bundeswehr. Die Qualifikationen, von denen Du dachtest, dass sie nützlich sein würden, sind sie im neuen Deutschland etwas wert?

Steffen: Sicherlich nicht die praktischen Fähigkeiten, die ich erlernt hatte. Die alten Telefonsysteme aus den 1960er Jahren konnte man vielleicht noch in einem Museum verwenden. Die persönlichen Beziehungen sind geblieben und den Erfahrungen, die ich hatte. Einige der Freundschaften von damals bestehen immer noch. Ich habe noch immer diese beiden Freunde aus dieser Zeit, die ich ab und zu treffe.

Der restliche Plan hat gut funktioniert, so wie ich es mir gedacht hatte. 1991 habe ich dann angefangen, mein Abitur zu machen. Weil ich ja erst eine Lehre gemacht hatte (ohne Abitur), durfte ich noch nicht studieren. Also habe ich mich ein Jahr lang auf das Abitur vorbereitet und begann danach 1992 ein Studium an der Hochschule Mitweida, einer kleinen Stadt in der Nähe von Chemnitz. Das habe ich 1996 abschlossen, fast wie geplant.

Ian: Nur mit dem Unterschied, dass zwischendurch ein Land verschwunden ist.

Steffen: Ja, in der Tat.

Putsch in Moskau und Abschied aus Leipzig

Ian: Wie hast Du Dich an Deinem letzten Tag bei der Bundeswehr gefühlt? Warst du traurig, dass du dieses Leben aufgibst, oder hast du nach vorn geschaut?

Steffen: Für mich war es immer so, dass ich mich drei Jahre auf diesen Tag vorbereitet habe. Da ich es so geplant hatte, war immer klar, dass es ein Ende geben würde.

Doch im August 1991, in den letzten Tagen meiner Bundeswehrzeit, im Sommer 1991, musste ich nochmal den Atem anhalten. Seit Helmut Kohl Anfang 1990 in Leipzig Bananen verteilt hatte, war ich irgendwie angewidert von der Art, wie uns diese Leute um ihn herum behandelt hatten. Und auch, wie sich einige meiner Landsleute, wie sich manche DDR-Bürger tatsächlich verhielten und was sie suchten. Ich war also nicht sehr begeistert, dass Helmut Kohl Kanzler der Wiedervereinigung wurde.

Aber dann gab es im Sommer 1991 den Putsch in Moskau und plötzlich war es nicht mehr auszuschließen, dass das Militär die Macht übernimmt. Das war buchstäblich in meinen letzten Tagen bei der Bundeswehr. Und da habe ich zum ersten Mal gedacht: “Gott sei Dank, dass die Wiedervereinigung vollendet ist.” Es war klar, dass es jetzt ein Deutschland ist. Bis dahin hatte ich noch gedacht “vielleicht hätten wir es langsamer angehen sollen”, und es wäre vielleicht auch einfacher gewesen für viele Menschen, und vielleicht hätten mehr Arbeitsplätze erhalten werden können und so weiter.

Aber politisch gesehen war es der richtige Schritt, und das hatte ich vorher nicht so gesehen. Kohl hatte immer gesagt, das er die Einheit will “wenn die geschichtliche Stunde es zulässt”. Rückblickend muss ich sagen, nach all den Jahren, dass damals die Gefahr real war, dass das Militär die Macht hätte übernehmen können. 1991 waren die Russen noch tief in der DDR, sie hätten die Grenze schnell schließen und die DDR wiederherstellen können, und alles wäre zu Ende gewesen. Das hat sich dann zum Glück noch im August 91 aufgelöst. Als ich dann Leipzig verließ, war alles wieder gut.

Natürlich verlässt man Freunde und das war ein trauriger Teil. Aber ich schaute in die Zukunft und auf das beginnende Studium. Ich habe mich auf die nächste Sache gefreut, also war ich überhaupt nicht traurig.

Unterschiede NVA und Bundeswehr

Ian: Wenn Du auf Deine Zeit bei der NVA zurückblickst, gibt es etwas, das die NVA Deiner Meinung nach besser gemacht hat als die Bundeswehr?

Steffen: Dazu müsste man erstmal klären, aus welchem Blickwinkel sie etwas besser machten? Offensichtlich haben sie die Menschen nicht besser behandelt. Aber aus einer militärischen Perspektive betrachtet war die Organisation der NVA viel strenger und viel stärker auf eine schnelle Reaktion ausgerichtet.

Die Befürchtung war immer, dass Westdeutschland die Panzer starten und Ostdeutschland in drei Tagen überrollen würde. Alles konzentrierte sich darauf, in Alarmbereitschaft zu sein und innerhalb von soundsoviel Stunden oder Tagen zu reagieren. Innerhalb von sechs Stunden würden die Raketen bereit sein, und innerhalb von zwei Wochen hätten sie weitere zwei Millionen Menschen mobilisiert.

Was auch immer es war, diese schnelle Reaktion, und dass die Leute sozusagen immer bereit waren zu reagieren, das hat die DDR viel stärker durchgezogen. Natürlich auch zu enormen Kosten: sie haben Häuser gebaut, Unterkünfte in der Nähe der Kaserne, damit die Offiziere in der Nähe wohnen können. Obwohl, ich glaube das hat die Bundeswehr auch gemacht. Es gab auch viele Ehen der Offiziere, die gescheitert sind, weil sie alle zwei Jahre an einen neuen Standort umziehen und sie und ihre Frauen neue Freunde finden mussten. Das ist ein trauriger Preis, den die Leute für diese Art der Bereitschaft zahlen mussten.

Also aus diesem Blickwinkel betrachtet, ist das wahrscheinlich etwas, was die DDR und die NVA strenger und vielleicht effizienter gemacht haben.

Ian: Als ich mit den BRIXMIS-Leuten, den militärischen Verbindungsleuten, gesprochen habe, haben sie unter anderem immer gesagt, dass Sie die NVA für weitaus professioneller hielten als die sowjetische Armee, unter anderem, dass das Niveau der Bereitschaft viel höher war. Aber auch das es viel schwieriger war, von ihnen Informationen zu erhalten, während ein Sowjet sehr viel leichter bestochen werden konnte.

Steffen: Ich konnte sehr gut sehen, dass die Russen einfach arme Leute waren. Es gab nur wenige Momente, in denen ich sehen konnte, wie sie lebten, aber das war unglaublich schlecht.

Epilog

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Vielen Dank fürs Zuhören und bis nächste Woche!